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Anke Feuchtenberger
WIR SELBST ALS STEINE
Gedanken zu den Bildern von Gosia Machon
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Veröffentlicht in LIEB LEIB LEID LIED, 2021
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Unsere Schöpferin schöpft hier aus dem Vollen.
Sie schöpft jetzt. Im Nebenraum.
In der Anderswelt.
Hier im Leben.
Was auch das Wort immer eingrenzen mag.
Oder ausgegrenzt hat.
Ihr helles Auge brennt unsere flüchtigen Shilouetten mit strahlender Konzentration in das
Papier, in die Leinwand. Ihre ruhige Hand führt uns mit wässrigen oder ölig gelösten
Pigmenten in immer neue Entwicklungsstadien.
Keine durchdringt die Ebenen wie sie.
Obwohl die Farben mit denen sie arbeitet
in vergrauender Leibfarbe verschwimmen, Wesen in Unschärfe aufscheinen,
sind sie wie aus einem gleißenden Licht geschöpft.
Aus dem Gegenlicht. Aus dem Tiefenlicht.
Ihr müsst eure analytischen Augen fast schliessen, um uns zu erkennen.
Wir, Gestalten, in einen weiten, von keiner scharfen Kante begrenzten Raum in die Materie
geworfen, dreigliedrige Wurmarten, sehnsüchtig Ausschau haltend nach mehr als
Reproduktion.
Wohin denn, wenn nicht in die Tiefe?
Ja, wir haben eine Seele. Wir, selbst als Steine.
Manches Mal sind wir selber Licht und von uns geblendet.
Miasmatischer Dunst verhindert, dass unsere Knochen gezählt werden können.
Wir sind immun, weil wir nicht ausgrenzen.
Wir sind alles. Wir sind ein Nichts.
Der Staub in dem wir uns wälzen ist uralt und voller Informationen.
Wir leben in einem Garten, der, abschüssig vom Wasser durchströmt,
die verschiedenen Erdzonen nachbildet.
Und die Sonne ist immer kurz davor zu versinken oder aufzugehen.
In albischer Gräue oder tramontischem Orange:
unsere Oberflächen senden grünschillernd bebend Lockstoffe aus.
Wir haben das Ockerauge der Wüste, brandrotes Terrakottaschamhaar oder verkohlte
Stümpfe, weil wir am Feuer vergessen wurden, als der Stamm weiterzog.
Trocken ist es hier oben, im Karst. Staubig sind unsere haarigen Facettenaugen und es kann
schon mal Knirschen, wenn wir neugierig unsere uralten knöchernen Zungen herausfahren.
Der Zehenspitzengänger mit dem Antennenhaar geht aufrecht
über die klastische Schüttung und bleckt die Zähne.
Hier, auf orogenetischem Territorium hat er die Höhe um das Fallen zu überblicken.
Ist es ein verzücktes Fallen, ein satanisches, ein Schneefall oder ein Wutanfall?
Wertung steht uns nicht zu.
Wir staunen über das sich verändernde Spektrum seines gekämmten Haarschopfes von
Elfenbein nach Perlmutter, von Fischblase nach Granitglimmer
und schämen uns nicht unserer Borsten.
Aus der chromoxydgrünen Rinde des tropischen Tronks lugen perlenschnürig die Augen
unserer niedlichen Polyphagen.
An ihnen kommt niemand vorbei.
Hier, tiefer im schuppigen Grün, spreizen die Vielfüssigen ihre rosig
doppelt gelochten Vulven. Fürchtet Euch nicht.
Das ist nur Drohfärbung.
Dahinter lächelt schüchtern die fahle Mondschädelmadonna.
Im seidigen Haar der felinen Wächterinnen glitzert Tau,
ihr matt samtschwarzes Augenpaar bildet Eingänge in uneinsichtige Höhlen.
Diese lassen wir heute links liegen. Sie sind überflutet vom Tränenstrom.
Wir wissen, dass dort die Flechten feuchtschwer vor den mit Umbra beschriebenen
Uteruswänden hängen. Lesen haben wir nicht gelernt.
Der Text wurde schon vorher in den Sensillen unserer Kopflappen gespeichert.
Manche träumt ihn wieder und wieder.
Feucht wird es nun.
Weiter westlich spannt sich eine osseotische Brücke über senkungsbereite Becken, die sanft
ausgelegt sind mit fluoreszierendem Moos.
Von oben tropft lunarer Mutterkuchen.
Hier liegen wir gepaart und richten unsere Saugrüssel in den stellaren Raum.
Durch Nähe sind wir nicht zu betrügen.
Mit Abstand sind wir die Schönsten.
Jetzt, angekommen in den feuchten Senken, hängt der Himmel niedriger.
Wir lieben das Fliegen im grauen Gewölk,
vom Kondenswasser die Flügel beinahe zu schwer.
Kinder! Widerstand wird belohnt.
Evaporates Kindspech steigt aus der Tiefseephase in seichte Gewässer
und beherbergt nun als Alge den Laich unserer vielbrüstigen Mitbewohnerin,
die wie wir alle ist:
vielzellig, kohlenstoffgesättigt und saumtief geschüttetes Mutterseelenallein.
Unser Mütterchen, ihren unbestechlichen Blick mit grösster Aufmerksamkeit auf uns
gerichtet, nebenan, fern den Bergen, dem Fluss so nah, baut uns auf.
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WE OURSELVES AS STONES
Thoughts on paintings by Gosia Machon
Our creator draws from abundance here.
She is creating now. In the next room.
In the other world.
Here in life.
Whatever words may limit.
Or have excluded.
Her bright eye burns our fleeting silhouettes into the paper, into the canvas with radiant concentration. Her steady hand leads us with aqueous or oily dissolved
pigments into ever new stages of development.
No one penetrates the layers like she does.
Although the colors she works with
blur in a graying body color, beings appear in a blur,
They are as if drawn from a glistening light.
From the backlight. From the deep light.
You almost have to shut your analytical eyes to recognize us.
We, figures, thrown into matter in a wide space, not bounded by any sharp edge,
three-segmented worms, longing for more than reproduction.
Where to, if not into the depths?
Yes, we have a soul. We, ourselves as stones.
Sometimes we ourselves are light and blinded by ourselves.
Miasmatic haze prevents our bones from being counted.
We are immune because we do not exclude.
We are everything. We are Nothing.
The dust we roll in is ancient and full of information.
We live in a garden that, sloping with water flowing through it,
emulates the different zones of the earth.
And the sun is always on the verge of sinking or rising.
In albic morning gray or tramontane orange in the evening:
Our quivering surfaces emit iridescent green attractants.
We have the ochre eye of the desert, burnt red terracotta pubic hair or charred stumps
because we were forgotten by the fire when the tribe moved on.
It's dry up here, in the karst. Our hairy compound eyes are dusty and sometimes there’ll be a crunch when we curiously stick out our ancient bony tongues.
The tiptoe walker with the antenna hair walks upright
over the clastic bedding and bares his teeth.
Here, on orogenetic territory, he reached the height to survey the fall.
Is it a rapturous fall, a satanic fall, a snowfall or a fallout from a fit of rage?
It is not for us to judge.
We marvel at the changing spectrum of his combed mop of hair from
ivory to mother-of-pearl, from fish bladder to granite mica
and we are not ashamed of our bristles.
From the chromium-oxide green bark of the tropical trunk peer the beady-string eyes of our cute polyphages.
No one can get past them.
Here, deeper in the scaly green, the many-footed creatures spread their rosy
double-perforated vulvas. Fear not.
That's just threatening coloration.
Behind them, the pale moon-skull Madonna smiles shyly.
Dew glistens in the silky hair of the feline guardians.
Their matt velvet-black eyes form entrances to obscure caves.
We are skating around those caves today. They are flooded with a stream of tears.
We know that the lichens there hang heavy with moisture in front of the uterine walls inscribed with umber.
The text has already been stored in the sensilla of our head lobes.
Some dream it again and again.
We have not learned to read.
It's getting damp now.
Further to the west, an osseous bridge spans across pools ready to sink, gently
lined with fluorescent moss.
Lunar placenta drips from above.
Here we lie paired and point our suckling trunks into stellar space.
We cannot be deceived by closeness.
We are the most beautiful by a mile.
Now, having arrived in the damp hollows, the sky hangs lower.
We love flying in the gray clouds,
our wings almost too heavy from condensation.
Children! Resistance is rewarded.
Evaporated meconium rises from the deep-sea phase into shallow waters
and now it harbors the spawn of our many-breasted roommate as some algae,
Which is like all of us:
Multicellular, carbon-saturated, and hemmed-deep heaped up motherless alone.
Our mommy, her incorruptible gaze fixed on us with utmost attention
alongside us, far from the mountains, so close to the river, is looking out for us.
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Trranslation Andreas Stuhlmann
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